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09. Februar 2023 SeminarLesezeit: 7 Minuten

Gesunder versus ungesunder Egoismus

Immer wieder werde ich in meinem Seminar Modul 1 Grundlagenseminar Gewaltfreie Kommunikation gefragt, ob es denn nicht egoistisch sei, sich um sich und die eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Meine Antwort lautet: nein! Und ja!

Zu nein: Die Anleitung im Flugzeug der Flugbegleitung heisst: Bei Druckverlust in der Kabine möge man sich selbst zuerst die Sauerstoffmaske anziehen und dann erst den Mitreisenden helfen, sie aufzusetzen. Kurz und bündig: Das ist das Prinzip! Wenn wir uns gut um uns kümmern und das so institutionalisiert haben, dass es im Alltag automatisch funktioniert, und uns aktiv um unsere Werte wie Wertschätzung, Gemeinschaft und Verständnis kümmern, sind wir für die Menschen in unserer Umgebung (und für die Welt) ein Gewinn. Nur wenn wir uns also Pausen gönnen für Ruhe und Erholung, sind wir ausgeglichen und «besonnen» und haben genug Kraft andere zu unterstützen, ohne selbst auszubrennen oder uns zu übergehen. So wie mit der Sauerstoffmaske!

Zu ja: Es kommt immer auf das Mass an. Wie bei allem anderen im Leben geht es um die Dosis. Dieses Mass wird sich einpendeln, doch am Anfang gibt es vermutlich eine Phase, in der wir sehr auf uns und unsere Bedürfnisse bezogen sind. Denn zu Beginn braucht es etwas mehr davon, da die meisten Menschen das nicht gelernt haben. Meist haben uns das schlechte Gewissen oder innere Verbote davon abgehalten, dass wir uns um uns selbst kümmern. Da darf man auf dem Schieberegler erst mal vom Minus auf 0 kommen – und dann ist man aber noch nicht im Plus!

Wie viel Egoismus ist gesund?

Von Marshall B. Rosenberg habe ich es so verstanden: «Es gibt eine Form des gesunden Egoismus, der nährend ist für sich und andere.» Erinnert euch an die Situation in der Flugzeugkabine!

Der gesunde Egoismus: Wir lernen uns und unsere Grenzen kennen, um dann wohlwollend für andere da zu sein, denn wir sind gut genährt und in unserer Kraft. Das steigert die Handlungsfreiheit und somit den Selbstwert. Du lebst einen gesunden Egoismus (bewussten Egoismus), wenn du im Alltag nicht mehr darüber nachdenkst, sondern deine Bedürfnistanks nahezu gefüllt sind, um dir Zeit für Entspannung und Dinge zu nehmen, die du liebst und deine Lebensfreude ankurbeln. Jedoch ohne dich dabei unter Druck zu setzen.

Als ich mich selbst zu lieben begann, befreite ich mich von allem, was nicht gesund ist für mich – Nahrung, Menschen, Dinge, Situationen – und von allem, was mich herunterzieht und mich von mir wegzieht. Erst nannte ich diese Haltung einen «GESUNDEN EGOISMUS». Heute weiss ich, das ist «SELBSTLIEBE

Charly Chaplin in «Selbstliebe»

Mit der Gewaltfreien Kommunikation lernst du, dich über deine Bedürfnisse klar zu werden und sie zu erfüllen, ohne die Bedürfnisse anderer ausser Acht zu lassen. Du lernst ebenso, dich beharrlich, aber liebevoll für dich einzusetzen und klare Grenzen zu setzen bei Menschen, die dir nicht guttun. Wenn dies gelingt, kommst du automatisch in die altruistische Haltung. Du stärkst damit deinen Selbstwert, denn du bist dir selbst schon viel wert und machst es damit deutlich. Du sprichst aus, was du brauchst. Denn: Andere können nur bedingt hellsehen. Erst durch diese Übung in gesundem Egoismus weisst du genau, was du brauchst. Unterlassener gesunder Egoismus zeigt sich durch Erschöpfung und Stress.

Ungesunder Egoismus ist, alles auszublenden, was beachtet werden dürfte. Bei Diskussionen könnte es so sein, dass wir in der Abwehrhaltung sind und das Argument der anderen nicht einmal hören wollen, geschweige denn bereit sind, zu versuchen zu verstehen. Wir sind darauf aus, unsere Wünsche und Ziele zu erreichen, unabhängig davon, wie es anderen Menschen damit geht. Ellenbogenprinzip. Es ist nicht der Wunsch da, sich in andere hineinzufühlen, empathisch zu sein. Oft verbirgt sich dahinter jedoch eine Not, etwas unbedingt zu brauchen und Angst haben, etwas nicht zu bekommen. Also unter Umständen auch ein geringer Selbstwert und Mangeldenken.

Wenn die Bedürfnistanks leer sind, um nicht zu sagen ausgetrocknet, dann ist viel Druck da, sie unter allen Umständen zu füllen. Dies gilt auch gegenüber den Schätzen, die uns die Erde bietet. Diese nicht im Blick zu haben, bedeutet, dass die Nachkommen leer ausgehen. Leider ist hier die Situation so, dass manche Menschen nicht gelernt haben, sozial- und umweltverträglich die eigenen Bedürfnisse auszudrücken und Wege zu deren Erfüllung zu finden, ohne andere aus dem Blick zu verlieren. Es ist sehr heikel, immer zu nehmen und nicht zu geben. Wer nimmt, darf auch ans Geben denken.

Gesunder Egoismus anstatt Selbstaufgabe

Unser Gehirn ist auf Kooperation, Gemeinschaft und Zugehörigkeit ausgerichtet. Dadurch erleben wir soziale Anerkennung und letztlich beschenkt uns unsere Hilfsbereitschaft mit Wohlbefinden und Zufriedenheit. Ausser, wir tun zu viel für andere, verknüpft mit dem unumstösslichen Verbot, sich um sich selbst zu kümmern.

Wenn du deine Persönlichkeit mit der GFK weiterentwickeln möchtest, lernst du, dich für andere nicht mehr zu verbiegen. Wenn du deine Interessen zurückstellst, erfüllst du dir auch ein Bedürfnis, zum Beispiel gemocht oder geliebt zu werden. Die Gefahr ist allerdings, dass du mit der Zeit Wut auf andere entwickelst, wenn du dich immer wieder gegen deine eigenen Interessen entscheidest.

Gewaltfreie Kommunikation beinhaltet also ein gelingendes Selbstmanagement. Dazu gehört Klarheit über die eigenen Werte und Strategien zur Erfüllung der Bedürfnisse. Das Ergebnis ist Selbstbehauptung: Elegant nein sagen zu können, um Überforderung zu vermeiden. Die eigenen Bedürfnisse ebenso wichtig zu erachten wie die der anderen. So kommen Selbstsicherheit und Selbstvertrauen in den Plus-Bereich, und die Bahn wird frei für ein gelingendes Beziehungsmanagement. Mit einer Offenheit, die aus einer gesunden Kraft herauskommt, können wir gemeinsam geeignete Strategien finden, damit so viele Bedürfnisse wie möglich erfüllt werden. Hierfür ist der gesunde Egoismus meines Erachtens unumgänglich.

Gesunder Egoismus ist lernbar: Modul 1

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